Ein Stück Kindheit, das für immer bleibt
Wie beeinflusst ein Bruder oder eine Schwester mit kognitiver Beeinträchtigung die persönliche Entwicklung der Geschwister? Und welche Erfahrungen machen Geschwister von Menschen mit Behinderung in diesem Zusammenhang?
Familien, in denen ein Kind kognitiv beeinträchtigt ist, erleben viele Situationen anders als andere. Auch die Geschwisterbeziehungen sind anders. Für die Geschwisterkinder können sich eine Reihe von Herausforderungen, aber auch Chancen ergeben. Daraus können für die persönliche Entwicklung positive, aber auch negative Einflüsse entstehen. Geschwisterkinder können beispielsweise durch Angst, Diskriminierung, frühe Selbstständigkeit oder fehlende Eltern-Kind-Zeit belastet werden, anderseits aber auch von ihrer Geduld, ihrem Verständnis und Einfühlungsvermögen profitieren. Um die Sichtweise der Geschwisterkinder auf ihre Situation zu verdeutlichen, wurden im Rahmen einer Masterarbeit qualitative Interviews geführt und ausgewertet. Es zeigte sich, dass Geschwisterkinder sehr unterschiedliche Wahrnehmungen ihrer Geschwisterbeziehung haben, ihre Rolle jedoch insgesamt als „normal“ und selbstverständlich betrachten.
Dass es für Eltern schwierig ist, ein Kind mit Behinderung zu bekommen oder zu haben, scheint in unserer Gesellschaft präsent und nachvollziehbar. Dass dieses Kind das gesamte Leben der Eltern ändert und beeinflusst, ebenso. Dass auf die Eltern dadurch viele zusätzliche Belastungen zukommen, auch. Dass die besondere Familiensituation sich aber auch auf die Geschwister auswirkt, ist weniger bekannt. Laut Statistik Austria lebten 2015 in Österreich etwa 600.000 Menschen mit kognitiver oder mehrfacher Beeinträchtigung. Diese Menschen haben auch Geschwister… ihre Zahl ist nicht erfasst aber es muss sich um eine nicht zu vernachlässigende Anzahl handeln.
Geschwisterbeziehungen sind mitunter die längsten im Leben eines Menschen. Sie beginnen in der (frühen) Kindheit und enden im Normalfall erst im hohen Alter bzw. mit dem Tod eines Geschwisters. Im Gegensatz dazu können Ehen geschieden werden, Kinder kommen erst später im Leben dazu und Eltern verlassen es meist früher. Kurz gesagt: Von Geschwistern kann man sich nicht scheiden lassen, sie sind auch nach jahrelanger Funkstille immer noch Geschwister. Dieser Umstand alleine lässt wohl auf die große Bedeutung der Geschwister schließen. Verstärkt wird diese besondere Beziehung zwischen Geschwistern durch eine Vielzahl an Gemeinsamkeiten abseits der Genetik wie beispielsweise zusammen gemachte Erfahrungen oder kultureller Hintergrund.
Die Literatur beschreibt die Geschwister als „erste Beziehungspersonen nach den Eltern“, welche einen viel größeren Einfluss auf persönliche Gefühle, das individuelle Denken und Verhalten, Beziehungen aller Art, Verhalten in beruflichen und privaten Situationen, Interessen, Vorlieben und Abneigungen sowie grundlegende Einstellungen haben, als die meisten Menschen vermuten würden.
Geschwister lernen für gewöhnlich sehr viel voneinander, vor allem die jüngeren von den älteren. Das ist in Geschwisterbeziehungen mit einer Beeinträchtigung anders. In den Bereichen Sprache, Motorik oder kognitive Entwicklung können Geschwisterkinder meist wenig von ihren Brüdern und Schwestern mit Behinderung lernen. Ihnen fehlt außerdem die Möglichkeit, sich mit jemandem ebenbürtig auf Augenhöhe und im geschützten Rahmen zu messen, um Konfliktlösung zu üben.
Wie beeinflusst also ein Bruder oder eine Schwerster mit kognitiver Beeinträchtigung die persönliche Entwicklung der Geschwister? Und welche Erfahrungen machen Geschwister von Menschen mit Behinderung in diesem Zusammenhang? Die folgenden Aussagen sollen exemplarisch für ein Geschwisterkind stehen:
Geschwisterkinder können sich oft lange an Situationen erinnern, in denen sie wegen ihres Geschwisters mit Beeinträchtigung ausgelacht oder gehänselt wurden. Manche kennen das Gefühl, sich für ihr Geschwister schämen zu müssen. Einige haben bewusst vermieden, von der Beeinträchtigung ihres Geschwisters zu erzählen, um keine Angriffsfläche zu bieten. Das Gefühl, anders zu sein, taucht immer wieder auf.
Laut Literatur haben Geschwister von Menschen mit „unsichtbarer“ kognitiver Beeinträchtigung oft Probleme, diese zu erklären, da sie nicht sofort erkannt wird. Im Gegensatz dazu gilt beispielsweise Trisomie 21 als gesellschaftlich bekannt, was den Umgang einfacher macht. Deshalb werden offensichtliche Behinderungen als weniger belastend empfunden, als unsichtbare. Behinderungen, die auf den ersten Blick ersichtlich sind, führen zu anderen, angepassteren Reaktionen aus dem Umfeld.
Je nach Beeinträchtigung benötigen die Geschwister mehr oder weniger Beaufsichtigung, die teilweise auch von den Geschwisterkindern übernommen wird. Der Großteil von ihnen gibt im Interview an, sich dazu verpflichtet zu fühlen, vor allem, um die Eltern zu entlasten. Die Literatur erwähnt hierbei das recht hohe Maß an Verantwortung, welches Geschwisterkinder bei der Betreuung des Geschwisters mit Beeinträchtigung übernehmen (müssen) um beispielsweise bei einem Anfall richtig zu reagieren. Diese Verantwortung kann über das kindgerechte Maß hinausreichen und zu Überforderung führen.
Dass Geschwisterkinder oft weniger Aufmerksamkeit von den Eltern bekommen als ihre Geschwister mit Beeinträchtigung wird meist als logisch und unumgänglich angesehen, da durch besondere Bedürfnisse wie Therapien, Krankenhausaufenthalte, Rehabilitation,… mehr elterliche Zeit aufgewendet werden muss. Kinder empfinden diesen Umstand teilweise als ungerecht, im Erwachsenenalter tritt Verständnis in den Vordergrund. Die meisten Geschwisterkinder sehen das Bemühen ihrer Eltern, allen Kindern die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie brauchen. Tage, an denen sich die Eltern nur Zeit für das Geschwisterkind nehmen, werden als sehr wertvoll erachtet.
Viele Geschwisterkinder erleben das Thema „Behinderung“ in ihrer Familie als Tabu, welches kaum oder gar nicht thematisiert wird. Laut Literatur hat die Vorbildfunktion der Eltern hat großen Einfluss auf den Umgang der Geschwisterkinder mit ihrer Situation. Das beginnt bei der Akzeptanz der Situation, die das gesamte Familienkonstrukt prägt. Ein Elternpaar, das nie mit dem Umstand, ein behindertes Kind zu haben, seinen Frieden geschlossen hat und es vorrangig als Belastung sieht, wird diese Einstellung an die Geschwisterkinder weitergeben und umgekehrt.
Viele Geschwisterkinder haben wenig bzw. keine Informationen über die Beeinträchtigung ihres Geschwisters. Wissenslücken führen der Literatur zur Folge leicht zu irrationalen Ängsten, die Geschwisterkinder schwer belasten können.
Laut Literatur kennen viele Geschwisterkinder die Angst, selbst eine Behinderung zu bekommen, bzw. diese in ihren Genen zu tragen und sie möglicherweise an eigene Kinder weiterzuvererben. Häufig ist die Ursache für diese Angst irrational, weil es eine eindeutige Erklärung für die Beeinträchtigung der Schwester oder des Bruders gibt. Speziell Kinder kompensieren aber ihre Wissenslücken mit Fantasie, was schwerwiegende Auswirkungen haben kann. Kindgerechte Information hilft dabei, sich von der Behinderung abzugrenzen und Ängste zu mindern.
Trotz all diesen Risiken profitieren Geschwisterkinder auch von der besonderen Beziehung zu ihrer Schwester oder ihrem Bruder mit Beeinträchtigung. Sie lernen beispielsweise, geduldiger zu sein und Rücksicht zu nehmen, sich auf andere einzulassen und verständnisvoll zu agieren, Verantwortung zu übernehmen und Gelassenheit in schwierigen Situationen zu bewahren. Durchsetzungsvermögen, Anpassungsfähigkeit und Einfühlungsvermögen helfen ihnen nachhaltig im Umgang mit Menschen. Zudem schätzen sie ihre Aufmerksamkeit, Lernbereitschaft, Sensibilität, soziale Kompetenz, Ausdauer, Vernunft und Kreativität.
Katharina Koll, Lehrerin für Primarstufe und Inklusion, Mutter einer 1-jährigen Tochter und Schwester eines jüngeren Bruders mit mehrfacher Beeinträchtigung (Masterthesis an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, wissenschaftlich begleitet von Mag. Dr. Raphael D. Oberhuber)
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